Aufgrund der Studentenproteste in Hongkong waren wir gezwungen ein Alternativziel für den vorletzten Stopp unserer Asienreise im September 2019 zu suchen. Ein wochenlanger basis-demokratischer Auswahlprozess, unter Abwägung allen „Für und Wider“, führte uns letztendlich zu einem annehmbaren Ergebnis namens „Stattdessen“ – übrigens ein gutes Beispiel für das allseits bekannte Hybridwesen aus Huhn, Schaf, Kuh und Schwein. Für Angie und mich hielt sich der Schmerz bezüglich der Reiseplanänderung in Grenzen, hatten wir doch Hongkong bereits während unserer Weltreise besucht. Nur Hansi und Evi mussten HK abschreiben und sich mit „Stattdessen“ begnügen. Und wäre das nicht schon genug, wurde „Stattdessen“ in letzter Minute fast noch ein Opfer höherer Gewalt. Aber von vorn.
Bevor wir von Tokio Abschied nehmen, besuchen wir zu später Stunde nochmal einen Onsen und sparen uns so auf entspannte Art und Weise das letzte Hotel. Apropos Entspannung. Eigentlich sind wir völlig unentspannt, wandert doch ein mächtiges Schlechtwettergebiet namens „Mitag“ durch Ostasien, welches das Zeug hat den Status unseres Fluges auf „Cancelled“ zu drehen. Also doch angespannte Ruhe bis zum „Check In“? Eine kurze Nacht später stehen wir am Haneda Airport und blicken der Realität ins Auge – Abflug.
Hart und ohne eitel Sonnenschein setzen wir am Taoyuan Airport auf. Die stürmischen Vorboten kündigen bereits den sich nähernden Taifun an. Glücklich und trockenen Fußes schreiten wir über die Schwelle unseres Hotels, wo wir aber notgedrungen den restlichen Tag verbringen müssen.
Schon ein flüchtiger Blick auf die Landkarte verrät eigentlich alles hinsichtlich der kulturellen Zugehörigkeit von „Stattdessen“, blockiert es doch förmlich die Hauseinfahrt des ungeliebten Verwandten. Nach der japanischen Kapitulation im 2. Weltkrieg fiel die Insel zunächst wieder an den großen Bruder auf dem Festland zurück. Die anschließende Niederlage der Regierungstruppen während des Bürgerkrieges führte wiederum zu deren Flucht nach „Stattdessen“ sowie der Gründung eines separaten Staates. Durch das ökonomische und politische Erstarken des großen Bruders in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, wurde „Stattdessen“ mehr und mehr in die Defensive gedrängt. Aus Angst vor wirtschaftlichen Sanktionen unterhalten die meisten Länder der Erde seitdem keine formalen diplomatischen Beziehungen zu „Stattdessen“ mehr. Notgedrungen nahm das Land sein Schicksal in die eigenen Hände und handelte fortan getreu dem Nietzsche Motto „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und steht, unter Berücksichtigung der Größenverhältnisse, dem Wirtschaftswunder des großen Bruders in nichts nach. Diesbezüglich erinnere ich mich noch ziemlich genau an mein erstes ferngesteuertes Modellauto, das mir meine Großeltern aus dem Westen mitgebracht hatten. Stolz wie „Graf Koks“ präsentierte ich jedem meinen neuen Porsche, wobei ich heute beim Gedanken an die Herkunftsbezeichnung im Unterboden meines Carrera`s schon ein wenig lächeln muss. Was damals mit einfacher Elektronik begann, trägt heute Namen wie ASUS, FOXCONN oder auch BenQ und steht so exemplarisch für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.
So schnell wie der Taifun kam, zog er auch weiter. Bereits am nächsten Morgen spiegeln sich nur noch die Strahlen der aufgehenden Sonne in den verbliebenen Pfützen und wir können unsere Entdeckungstour durch die Hauptstadt des Landes starten. Folgten unsere Tage in Japan noch zwangsläufig einem festen Reiseplan, so stürzen wir uns hier förmlich plan- und erwartungslos ins Getümmel. Getümmel ja, aber für eine asiatische Metropole fühlt sich „Stattdessen“ fast schon gemütlich an. Mit Ausnahme der wirklich hypermodernen Stadtviertel wirkt der Großteil der City äußerlich schon etwas in die Jahre gekommen. Ähnlich wie bei einer alten Flasche Wein so fungiert auch hier die Patina als Zeuge für ein authentisches Abbild von Zeit und Leben und umrahmt gleichzeitig den landestypischen Charakter im Inneren. Zwei Dinge stehen dabei besonders im Fokus – Essen und Shoppen – wer hätte es gedacht. Die Straßen sind gepflastert von Restaurants und Food-Ständen aller Art und wer noch irgendetwas braucht, um die heimischen Schubladen zu füllen, der wird hier sicherlich eine spektakuläre Variante dessen finden. Der beste Ort, um all das an einem Fleck zu bestaunen, sind die vielen allabendlichen Nachtmärkte der Stadt. Neben der bereits angeführten Bandbreite an allem Ess- und Kaufbarem halten diese Märkte auch jede Menge kindlich anmutender Unterhaltung vor, wie zu Beispiel lebende Fischchen angeln, wobei die Ü18 Variante den Verzehr miteinschließt und somit den Konsumkreis wieder schließt. Wo es viel zu essen gibt, kann Religion nicht weit weg sein, ist doch beides nicht erst seit Kurzem reine Geschmackssache. Wie auch beim Festlandbruder wird in „Stattdessen“ vorrangig der Buddhismus, sowie seine verschiedenen Spielarten, verehrt. Einen wirklich wunderschönen Ort für diese Huldigungen passieren wir während unseres Spazierganges im Stadtteil Wanhua – der „Lungshan Temple”. Wer sich mal eingehender mit der Tempelhausordnung beschäftigt, wird feststellen, dass das wunderschöne religiöser Gemäuer zwar ursprünglich als Buddhistentempel konzipiert war aber über die Jahrhunderte auch allen anderen Strömungen des Taoismus geöffnet wurde. Für alle Reisenden denen EIN Tempelbesuch als ausreichend erscheint, dem sei “Lungshan” ans Herz gelegt, sowohl visuell als auch olfaktorisch.
Im Vergleich zu anderen Metropolen der Erde speist sich das spezielle Flair der Hauptstadt weniger aus der Aneinanderreihung von Sehenswürdigkeiten, sondern vielmehr aus dem “Pura Vida” des alltäglichen Lebens. Der Rückgriff auf Costa Rica`s Leitspruch sei mir erlaubt, passt er doch auch hier voll ins Bild. Neben den immer freundlichen und gelassenen Menschen gefiel uns vor allem das angenehme und immer interessante Gewusel in den Straßen. Wer dennoch weitere Bilder für das Album benötigt dem können wir noch zwei Quer- sowie ein Hochformat ans Herz legen. Für die horizontalen Schnappschüsse stehen das “National Palace Museum” sowie die “Chiang Kai-Shek Memorial Hall” zur Verfügung, während sich die Hauptattraktion der Stadt, nur vertikal adäquat ablichten lässt. Es handelt sich dabei um eines der höchsten und gleichzeitig schönsten Gebäude der Welt, bestückt mit einem Fahrstuhl, der auf den Name “Rakete” hören könnte. Bis zur Aussichtsplattform in 429 m Höhe, benötigt das Geschoss gerade mal 37 Sekunden, womit selbst eine Fahrt in “Corona-Zeiten” mit Luft anhalten locker möglich ist. Im Inneren des Gebäudes lässt sich eine weitere Besonderheit bestaunen, die den recht häufigen Erdbeben in dieser Gegend geschuldet ist. Eine 660 Tonnen schwere Murmel wurde an Stahlseilen aufgehängt, um die Schwingungen solcher Ereignisse zu dämpfen. Eine schöne Aussicht auf die Stadt hat man übrigens auch sowie dieses unterschwellige Gefühl im Magen, dass sich das ganze Ding irgendwie immer bewegt. Die untersten Etagen sind wie so oft bei solchen Türmen dem Shoppen und Essenfassen vorbehalten. Gerade der Reisende mit einem ängstlichem Magen findet hier eine gefahrlose Möglichkeit einheimische Speisen zu probieren und erfährt dabei auch noch, was man eigentlich gegessen hat. Beim nächsten Marktbesuch schleicht man dann fast schon wie ein Einheimischer um Pfannen und Töpfe.
Nach all dem Gelatsche durch die Stadt gönnen wir uns noch einen Ausflug ins Grüne. Das wirklich günstige und vorbildlich organisierte Nahverkehrssystem bringt uns bis zu den südlichen Außenbezirken, wo wir von der Monorail in die “Maokong-Gondola” umsteigen und mehrere Kilometer über dicht bewachsene Hügelketten schweben. Die Seilbahn endet in dem gleichnamigen Örtchen, welcher sich primär dem Tee Anbau verschrieben hat. Wer einfach nur ein wenig zwischen den Teeplantagen herumwandern möchte, um den einen oder anderen Tee zu verkosten, ist in Maokong genau richtig. Tourismus wird hier draußen übrigens noch klein geschrieben, was sich abseits der Seilbahnstation in ausgesprochener Ruhe äußert. Für ausgiebige Gespräche mit den Einheimischen benötigt man allerdings Hände und Füße oder ausreichende Kenntnisse in Mandarin.
Was bleibt als Resümee festzuhalten? Auch wenn wir uns nur wenige Tage in “Stattdessen” aufgehalten haben nehmen wir einen sehr positiven ersten Eindruck mit. Auch bei unserer nächsten Reise in die Gegend würden wir anstatt nach Hong Kong lieber stattdessen nach Taiwan reisen.
Ganz liebe Grüße
Angie & Thomas